Hamlet, stellt ihn wieder her!

Hier geht es nicht nur um die Geschichte selbst, sondern auch um die  unterschiedlichen Sichtweisen auf den Stoff. Während die Szenen mehr und mehr in lebendiges Spiel übergehen, rücken die gelben Reclamheftchen, aus denen gelesen und zitiert wird, zunehmend in den Hintergrund. Im Laufe der Inszenierung muss ständig neu ausgehandelt werden, wer die einzelnen Rollen spielen darf… Schon bald entsteht ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den vier SpielerInnen um die schönsten Monologe Hamlets.

Credits

SPIEL: Patrick Dollas, Stefanie Fiedler, Isabelle Stolzenburg, Oleg Zhukov  REGIE: Johannes Arnold DRAMATURGIE: Dorle Trachternach AUSSTATTUNG: Svea Kellner PRODUKTIONSLEITUNG: Johannes Arnold FOTOS: Elisabeth Giers KOOPERATION: Stadttheater Hildesheim, KHG Hildesheim, Studentenwerk Braunschweig PREMIERE: 25.01.2006 Kulturfabrik Löseke, Hildesheim

„Die Bibliographie der Abhandlungen über Hamlet ist zweimal so dick wie das Warschauer Telefonbuch. Über keinen leibhaftigen Dänen ist soviel geschrieben worden wie über Hamlet. Dieser Shakespearsche Prinz ist ganz gewiss der berühmteste aller Dänen. Stimmen und Kommentare umranken Hamlet, so dass er zu einem der wenigen literarischen Helden wurde, die unabhängig vom Text, unabhängig vom Theater leben. Sein Name bedeutet selbst denjenigen was, die Shakespeare nie gelesen noch gesehen haben. Er ähnelt darin, wie Eliot bemerkte, Leonardos Mona Lisa. Bevor wir das Bild zu sehen bekommen, wissen wir bereits, dass es lächelt. Dieses Lächeln hat sich gleichsam vom Portrait selbst gelöst, es hat sich verselbständigt. (…) So verhält es sich auch mit dem Hamlet, und vor allem mit dem Theater-Hamlet. Denn zwischen uns und dem Text steht nicht nur das Eigenleben Hamlets in der Kultur, sondern auch sein Umfang. Hamlet lässt sich nicht im Ganzen spielen, er würde sechs Stunden dauern. Man muss eine Auswahl treffen, Kürzungen, Streichungen vornehmen. Man kann nur einen Hamlet spielen, einen von denen, die in diesem Einzelstück enthalten sind.“           Jan Kott: Der Hamlet der Jahrhundertmitte

 

PRESSESTIMMEN:

„Seit zwei Monaten wird täglich geprobt. Der Keller der Katholischen Hochschulgemeinde in der Braunsberger Straße, der als Probenraum fungiert, wurde zum Bunker, in dem die Gruppe sich mit Hamlet im wahrsten Sine des Wortes herumschlägt. Denn das gelbe Reclam-Heft, wie es sonst artig in den Bücherregalen steht, liegt zerrissen auf dem Boden. Und das muss auch so sein. Denn anders lässt sich Hamlet in dieser Inszenierung gar nicht zu Leibe rücken. (…) „Lasst vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne tragen…“ lässt Shakespeare sprechen. Die vier Schauspieler Patrick Dollas, Stefanie Fiedler, Isabelle Stolzenburg und Oleg Zhukov spielen vier Akteure, die sich gegenseitig den Rang ablaufen, weil jeder die Hauptrolle in dem Stück übernehmen und die Hamlet-Geschichte auf seine eigene Weise erzählen will. Ausgehend von einer szenischen Lesung gerät letztlich alles aus den Rudern und die Figuren enden im Desaster. So verkörpern sie gleichzeitig den Diskurs über Hamlet. Hamlet als Intellektueller, der an sich selber scheitert. Hamlet als Kriegsdrama. Hamlet als Selbstinszenierung. Und Hamlet als Familiendrama. „Sein oder nicht sein…“ wird hier zum Leitsatz eines persönlichen Egousmus, auf und hinter der Bühne.“     Franziska Richter,  Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 24.06.2006

„Shakespeares Klassiker endet mit einem eindeutigen Auftrag Hamlets an die Nachwelt: „Horatio, ich bin hin! Erkläre mich und meine Sache den Unbefriedigten!“ Der Rest ist bekanntlich Schweigen, und so mancher Interpret hat sich den Kopf zerbrochen und herauszufinden versucht, was Hamlet, der „philosophierende Spieler und spielende Philosoph“, mit dem „Rest“ denn nun eigentlich gemeint hat. Die völlig unklare Motivation für Hamlets Tatunfähigkeit, nur vordergründig setzt er alle Hebel in Bewegung um den Mord an seinem Vater zu rächen, ist der geniale Schachzug Shakespeares, der dem Stück auf deutschen Bühnen zu einem beispiellosen Erfolg verholfen hat und im Grunde das große Rätsel, um das sich die verschiedensten Interpretationen und Theorien ranken. Der extremen Vieldeutigkeit ist es zu verdanken, dass Hamlet, diese „Mona Lisa der Literatur“, wie T.S. Elliot formulierte, sich immer wieder in neuem Gewand zeigen, von Inszenierung zu Inszenierung und von Epoche zu Epoche in neuem Glanz erstrahlen kann. (…) Das Theater 11. August (…) widmet sich in seiner neuen Produktion mit dem Titel „Hamlet – Stellt ihn wieder her!“ dem großen, rätselhaften Schweigen Hamlets. Dabei werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet: Alle vier Spieler wollen die Geschichte auf ihre Weise erzählen und vor allem selbst die Hauptrolle darin übernehmen. Am Ende müssen sie scheitern, wie Hamlet selbst. Der Rest ist wie immer Schweigen.“   Kultur Pur, 2006

„Vier Schauspieler sitzen an vier Tischen, haben vier Schiefertafeln vor sich, auf denen sie ihre ständig wechselnden Rollennamen eintragen, und beginnen eine Leseprobe, die immer mehr zum Machtkampf darüber ausartet, wer Hamlet sein darf, und wer die bedauernswerte Ophelia sein muss, die wahnsinnig wird, weil ihr geliebter Hamlet anscheinend den Wahnsinnigen spielt. Oleg Zhukov, Patrick Dollas, Stefanie Fiedler und Isabelle Stolzenburg bewegen sich in brillanter Flexibilität durch eine hoch komplizierte Choreografie wechselnder Identitäten und Stimmungslagen. Dabei ist jede Rolle nur ein Angebot, nur ein spielerischer Einfall für den Augenblick, jede Szene eine sorgfältig zugespitzte Möglichkeit, die durch jede andere jederzeit ersetzt werden könnte. Das dekonstruktive Spiel, das dabei mit der Tragödie vom Dänenprinzen getrieben wird, steigert sich von einer anfänglich noch ganz strengen, texttreuen Askese zu einem immer wilderen Tanz von Ideen, die immer intelligenter, freier, witziger werden. Die großen Szenen tauchen nur noch in raffiniert erdachten symbolischen Ersatzhandlungen auf, und das todbringende Finale fällt beim aggressiven Streit um das letzte unversehrte Textbuch vollständig aus. Nein, das ist kein neuer Hamlet. Aber dafür ein nur selten albernes und besonders einfallsreiches Spiel im Spiel, ein intellektualisiertes Übungs- und Überwältigungsstück für Schauspieler, in dem jede Bühnenaktion zu allererst für sich selbst und ihre Akteure da ist. Und die bedienen sich in diesem Klassiker wie in einem großen Garderobenschrank mit unzähligen Kostümen – was nicht passt, wird passend gemacht.“  Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 27.01.2006